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Red‘ nicht von Liebe, von Wahnsinn oder Schmerz

. Lebe und fühle, aber plapper nicht darüber. So könnte die Prämisse lauten für das Schaffen von Niels Frevert, dessen Lieder eigentlich von allem handeln, was das Leben großartig und grausam macht, ohne dafür Pop-Superlativ-Phrasen abzuspulen. Große Momente brauchen keine großen Gesten, sie füllen auch so den Raum. Wenn sie denn wahr sind. Das kommende, neue Album "Paradies der gefälschten Dinge? ist voll von diesen wahren Momenten, die den Hörer überraschen und überwältigen ? eben weil sie sich nicht mit der üblichen Emotionalisierungsrhetorik

ankündigen. Weil die Songs oft über den Umweg der Lüge und des Selbstbetrugs ins Innerste der Wahrheit vorstoßen. Und weil sie aus dem Alltag und seiner Sprache direkt in den Abgrund und seinem Schrecken führen.

Man höre nur das Lied "Das mit dem Glücklichsein ist relativ", das dem Album vorausgeschickt wird: Da fällt der Ich-Erzähler für einen Hochzeitsantrag vor seiner Freundin auf die Knie und bekommt eben das ernüchternde Statement mit der Relativität des Glücks hingeknallt. Alles relativ also?

Eben nicht. Aber dies ist nun mal Popmusik für Erwachsene, da wirken die billigen Illusionierungsmechanismen nicht mehr. Koma, Klapse und andere Katastrophen: Frevert, Jahrgang 1967, beschreibt Krisen, die im Erfahrungshorizont eines jeden Mittvierzigers auf die eine oder andere Weise präsent sind. Und warum das Unglück weglügen, wenn man die Wahrheit in so beglückende Musik kleiden kann? Auf seinem Album jubilieren die Streicher, die kunstvoll arrangierten Bläser spenden Energie. Und mancher der verblassten, verwirrten und verführten Charaktere in Freverts Liedern geht am Ende wieder aufrecht. "Paradies der gefälschten Dinge? handelt vom Verlaufen und Nachhause finden. Vom Auflösen und vom Rematerialisieren.

Auflösen und Rematerialisieren, das beschreibt auch die außergewöhnlich gewundene künstlerische Laufbahn von Niels Frevert ganz gut. Mit seiner Band Nationalgalerie spielte er Rockmusik in ungestanzter deutscher Sprache, wild, frei und voll grimmigem Witz. Doch leider wollte Anfang der neunziger Jahre kaum jemand intelligenten deutschsprachigen Rock hören. Vier Alben nahm die Band auf, sie wären heute allesamt Bestseller.

"Paradies der gefälschten Dinge?, das neue und damit Frevert-Album Nummer fünf, markiert nun eine gewaltige Veränderung. Der Künstler wechselte Plattenfirma und Konzertagentur. Gemixt wurden die Aufnahmen diesmal von Olsen Involtini (Seeed, Peter Fox), der mehr Opulenz, aber auch gewagtere Dynamik in den Sound bringt. Großes Kino, das an Meilensteile des orchestralen Pop erinnert und Freverts Erkundungen falscher und echter Paradiese weite, lichte Klangräume öffnet. So können die Lieder musikalisch und lyrisch noch weitere Bögen schlagen, locken den Hörer noch tiefer in fremdes Terrain, um ihn dort mit angenehmsten Melodien und unangenehmsten Wahrheiten zu konfrontieren.

Die Akkorde führen den Weg in unverhoffte Richtung, der Hörer wird reingezogen in eine fremdartig schillernde Welt, in der er doch an jeder Ecke auf eigene Erfahrungen zurückgeworfen wird.

Auf einmal ist man dann eben mitten drin, in der Liebe, dem Wahnsinn, der Weltverlorenheit. In diesem Paradies mit doppelten Boden. Dieses Album wird Sie erst betören, dann verstören. Und am Ende vielleicht sogar retten.

Quelle: Neu Grönland